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Demokratie im Feed?
Wie Algorithmen politische Wirklichkeit formen

Soziale Medien sind 2025 kein bloßes „Begleitmedium“ der Politik mehr – sie sind eine der zentralen Arenen, in denen Aufmerksamkeit entsteht und Meinungen reifen. Ein neuer EINWURF der Bertelsmann Stiftung zeigt präzise, wie stark Empfehlungsalgorithmen die politische Sichtbarkeit im Wahlkampf verschieben – und wen diese Logiken besonders begünstigen. Die Analyse knüpft an die Bundestagswahl 2025 an und richtet den Blick nach vorn auf kommende Wahltermine: Wer junge Zielgruppen erreichen will, muss verstehen, was der Feed tut – nicht nur, was die eigenen Kanäle posten.

Die Grundlage: eine Datenerhebung der Universität Potsdam, die mit sogenannten Sock-Puppet-Audits arbeitet. 268 simulierte Nutzerprofile (21–25 Jahre) auf TikTok, YouTube, Instagram und X reproduzieren reales Nutzungsverhalten – gesteuert über definierte Interessen und Profilmerkmale. Ausgewertet wurden 2,6 Millionen Videos vom 22. Januar bis 23. Februar 2025; 120.605 davon hatten (partei-)politischen Bezug. Damit wird nicht nur gemessen, wer wie viel hochlädt, sondern was die Algorithmen jungen Nutzer:innen tatsächlich in den Feed legen.

Die sichtbaren Verzerrungen sind deutlich. Parteibezogene Inhalte mit #afd tauchten plattformübergreifend am schnellsten in den Feeds auf – auf TikTok im Durchschnitt nach nur 11–12 Minuten. Auch bei der Häufigkeit lag #afd klar vor anderen Parteien. Betrachtet man nur offizielle Parteiaccounts, wurden auf TikTok 312 unterschiedliche Videos der Linken und 229 der AfD in die Feeds empfohlen; SPD-Beiträge erschienen mit 175 Videos deutlich seltener. Kurz: Sichtbarkeit folgt nicht linear der Produktionsleistung.

Ein Abgleich von Upload- und Feed-Anteilen macht die Schieflage greifbar: Die Linke verantwortete rund 10 Prozent der Uploads, kam aber auf 28 Prozent der Feed-Ausspielungen; das BSW steigerte 3 Prozent Uploads auf 8 Prozent Feed-Sichtbarkeit. Die AfD war mit 21,5 Prozent der Uploads für 37,4 Prozent der Feed-Ausspielungen verantwortlich – absolut die höchste Sichtbarkeit. Mittlere Parteien wie Grüne (16,8 Prozent Uploads; 6,3 Prozent Feed), CDU/CSU, SPD und FDP wurden unterproportional ausgespielt.

Warum ist das so? Das übliche „mehr Likes = mehr Reichweite“ greift zu kurz. Die Linke erzielte über alle Uploads hinweg die meisten Likes und Views, die AfD die meisten Kommentare – beides kann die algorithmische Relevanz erhöhen. Gleichzeitig blieb die SPD trotz hoher Interaktionen vergleichsweise selten im Feed. Ein plausibler Treiber ist die Tonalität: Parteien wie AfD, Die Linke und BSW kommunizieren besonders häufig in negativ-kritisierender Ansprache – Inhalte, die Aufmerksamkeit binden und von auf Verweildauer optimierten Systemen tendenziell bevorzugt werden.

Das ist demokratierelevant, weil junge Menschen politische Informationen zunehmend passiv im Feed „vorfinden“, statt aktiv zu suchen. Studien zeigen: Ein erheblicher Teil der Gen Z stößt zufällig auf Politik; algorithmenkuratierte Feeds prägen so Wahrnehmung und Urteilsbildung. Damit wächst der Einfluss intransparenter Ranking-Logiken auf die Sichtbarkeit politischer Inhalte – gerade vor Wahlen.

Was folgt daraus? Kurzfristig sollten politische Akteur:innen dort präsent sein, wo junge Wähler:innen sich informieren – einschließlich TikTok – und Formate stärken, die Dialog statt Eskalation fördern. Mittelfristig braucht es mehr „Digital Literacy“ und verständliche „User-Guides“, die offenlegen, wie Daten verarbeitet und Feeds gefiltert werden; Nutzende sollten zwischen verschiedenen, transparenten Empfehlungseinstellungen wählen können. Langfristig ist Regulierung gefragt: Der Digital Services Act verpflichtet sehr große Plattformen zu Risikoprüfungen, Gegenmaßnahmen und mehr Transparenz; Forschungsschnittstellen (Art. 40 DSA) müssen tatsächlich funktionieren. Ergänzend sollte die öffentliche Hand gemeinwohlorientierte Plattformmodelle fördern – mit transparenten Empfehlungslogiken, offenen Quellcodes und partizipativer Governance.

Der EINWURF „Demokratie im Feed? Wie Algorithmen politische Wirklichkeit formen“ stammt von Amber Jensen, Kira Schrödel und Charlotte Freihse und erscheint im Rahmen des Programms „Demokratie und Zusammenhalt“ der Bertelsmann Stiftung. Die Analysen basieren auf Daten aus dem Potsdamer Social Media Monitor (PolSocial).

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